Zuerst veröffentlicht bei Lower Class Mag.
Die Corona-Krise ist vorbei. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man sich anschaut in welchem Tempo eine Maßnahme nach der anderen gelockert wird. Insbesondere Nordrhein-Westfalen nimmt hierbei unter Ministerpräsident Armin Laschet eine Vorreiterrolle ein. Dass breite Teile der Bevölkerung wieder die Einkaufsstraßen fluten, ihre sozialen Kontakte reaktivieren, dicht an dicht gedrängt in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, ist kaum verwunderlich.
Denn der staatlicherseits angestrebte Spagat zwischen fortlaufendem Zwang zur Arbeit und den sogenannten Social Distancing Maßnahmen im Privaten war schwer nachvollziehbar. Die großen Corona-Partys fanden schließlich staatlich angeordnet in Großbetrieben, wie Amazon-Fulfillment-Centern, dem Bausektor oder Schlachtbetrieben statt und auch überall sonst, wo man auf Saisonarbeiter*innen aus dem (EU-)Ausland angewiesen ist. Diejenigen die nicht weiter arbeiten durften, sahen sich aus dem Nichts mit existenziellen Fragen konfrontiert, auf die der Staat mit Tropfen auf den heissen Stein, wie etwa einem viel zu gering ausfallenden Kurzarbeiter*innengeld, keine angemessene Antwort gab.
Die haarsträubenden Arbeits- und Wohnbedingungen tausender Saisonarbeiter*innen, die, einzig zum Wohl des deutschen Wirtschaftsstandorts und gegen jede Corona-Schutzverordnung, tausendfach eingeflogen wurden, sprechen Bände über die Prioritäten, die während der Pandemie gesetzt werden. Es geht hierbei nicht um den Schutz von Menschenleben, sondern um die Sicherung von Kapitalinteressen und die Fortführung des kapitalistischen Normalvollzugs.
Was die Kampagne #LeaveNoOneBehind schon zu Beginn der Pandemie voraussagte, wird spätestens jetzt Realität: Die Marginalisierten und Prekarisierten trifft die Krise – die auch ohne Corona-Pandemie zu erwarten gewesen wäre und jetzt noch verschärft zu Tage tritt – am stärksten. Die Beispiele aus Ernte- und Schlachtbetrieben wie in Bornheim oder Gütersloh, zahlreichen Geflüchtetenlagern (bspw. in Bremen, Suhl und Ellwangen), aus den Wohnkomplexen Maschmühlenweg und Groner Landstraße in Göttingen und zuletzt aus den Landkreisen Coesfeld und Oldenburg weisen trotz lokaler Besonderheiten viele Gemeinsamkeiten auf.
All diese Orte wurden während der noch immer grassierenden Pandemie zu Corona-Hotspots. Betroffen sind zum Großteil migrantische und prekarisierte Arbeiter*innen. Schon vor der Corona-Krise von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert und nun von den implementierten Corona-Schutzmaßnahmen fast schon mehr betroffen als geschützt: Wo man dazu gezwungen ist, auf engstem Raum nebeneinander zu wohnen und zu arbeiten, sich mit hunderten oder gar tausenden Anderen eine prekäre Lebensrealität teilt und es gleichzeitig am Nötigsten für einen effektiven Infektionsschutz fehlt, ist Armut der Grund für Krankheit oder sogar Tod.
Der Fall des am Virus verstorbenen Feldarbeiters in Bad Krozingen, wie auch die unzähligen Ausbrüche in Göttingen oder im Schlachtbetrieb Tönnies strafen die vielzitierte Phrase “Vor dem Virus sind wir alle gleich” mit frappierender Evidenz Lügen. Die Corona-Krise zeigt überdeutlich auf, dass soziale Lage und Gesundheit unmittelbar miteinander verbunden sind und, dass man für Kohle bereit ist, über Leichen zu gehen.
Als wäre das für sich noch nicht genug, befeuern Politik und Medien eine rassistische Mobilisierung gegen die am schlimmsten von der Pandemie Getroffenen. So sprach etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet vor dem Hintergrund der jüngsten Ausbrüche in den Schlachtbetrieben davon, dass das Virus aus Rumänien oder Bulgarien eingeschleppt worden sei, während die von ihm forcierte Lockerung der Maßnahmen in keinem Zusammenhang damit stünde. Gleichermaßen bediente etwa die bundesweite Presse rassistische Motive, wonach migrantische Großfamilien für die steigenden Infektionszahlen in Göttingen verantwortlich seien und fütterten somit jenes rassistische Narrativ, welches dem Terroranschlag von Hanau am 19. Februar 2020 den Nährboden bereitete.
Im Rahmen des jüngsten Skandals trifft es also wieder eine Produktionsstätte, in der mehrheitlich osteuropäische Saisonarbeiter*innen unter prekären Bedingungen beschäftigt und untergebracht sind: Wochenlang werden die Arbeiter*innen in die Schlachthöfe gekarrt, arbeiten und leben auf engstem Raum und sind so einem unverantwortlichen Infektionsrisiko ausgesetzt. Die öffentlich gewordenen Bilder zeigen überfüllte Kantinen, mangelhafte Schutzausrüstung und bereitgestellte Unterkünfte, die eher den Ställen der geschlachteten Tiere ähneln, als einer menschenwürdigen Wohnsituation. Den Arbeiter*innen werden mitunter 7-Bett-Zimmer zu horrenden Preisen bereitgestellt, deren Kosten bereits vom ohnehin unwürdig geringen Lohn abgezogen werden. Die Lebensmittelversorgung während des Lockdowns, die von Tönnies übernommen werden sollte, ist unzureichend und hat bereits zu massiven Versorgungsengpässen gesorgt.
Die rigorose Durchsetzung des Lockdowns in den betroffenen Landkreisen durch massive Polizeipräsenz an den Unterkünften der Belegschaft macht auch hier wieder den rassistischen Charakter der staatlichen Institutionen deutlich. Nirgendwo sonst wurde in solch einer repressiven Weise das Leben der Menschen während der Pandemie kontrolliert und durchleuchtet wie bei den betroffenen, meist osteuropäischen Saisonarbeiter*innen.
Ausgestattet mit Werk- und Leiharbeitsverträgen von Sub-Subunternehmen, ist es den Arbeiter*innen kaum möglich ihre Arbeitsrechte wahrzunehmen und gegen die miserablen Arbeitsbedingungen vorzugehen. Drohender Lohnausfall stellt die Betroffenen von einem Tag auf den anderen vor existenzielle Bedrohungen. Die Angst in Armut und Obdachlosigkeit abzurutschen und die neuerlich verabschiedeten Maßnahmen verschärfen die Abhängigkeit von diesem Schweinesystem und verhindern eine solidarische Praxis der Belegschaft untereinander.
Die Beschäftigung über Subunternehmen in Werksverträgen, menschenunwürdige Unterbringung, schlechte Verpflegung und der ausbleibende Seuchenschutz in Zeiten der Pandemie sind keine Einzelfälle, sondern haben System. Der deutsche Wirtschaftsstandort im Allgemeinen, das einzelne Unternehmen im Besonderen, profitieren hier von der ökonomischen Abgeschlagenheit osteuropäischer Nachbarstaaten. In Zeiten eines globalisierten Arbeitsmarktes wird hier ein internationaler Klassenwiderspruch deutlich: Es wurde eine Armee billiger Arbeitskräfte geschaffen, deren prekäre Situation sie dazu nötigt, unter widrigsten Bedingungen als Arbeitsmigrant*innen in der Reproduktion, auf Spargelfeldern oder in Schlachtbetrieben diejenigen Tätigkeiten zu verrichten, für die sich Deutsche noch zu schade sind und müssen dann auch noch froh darüber sein, damit ihre Familien ernähren zu können.
Dennoch zeigt der Arbeitskampf der Feldarbeiter*innen in Bornheim, dass sich, zumindest im Ansatz, gegen solche Zustände gewehrt werden kann. Sie legten die Arbeit nieder und organisierten sich, nachdem ihnen ihre Lohnzahlungen vorenthalten wurden. Die Folge waren acht Tage wilde Streiks, die es den Arbeiter*innen am Ende ermöglichten zumindest einen Teil ihrer rechtmäßig zustehenden Kohle zu erkämpfen. Es wurde deutlich, dass durch Organisierung und Solidarisierung gegen die Arbeitsbedingungen die Arbeiter*innen eine Selbstermächtigung herbeigeführt haben, das welche die strukturelle Benachteiligung der ausländischen Arbeiter*innen aufbrechen konnte.
Wir rufen dazu auf, die negative mediale Öffentlichkeit, die Tönnies gerade hat, nicht abbrechen zu lassen und sich mit den Arbeiter*innen sichtbar und praktisch zu solidarisieren. Das ist auf vielfältige Art und Weise möglich! Als anlassbezogenes Bündnis “Shut Down Schweinesystem” werden wir in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin Imageschaden gegen Tönnies und dem Schweinesystem als solchem betreiben und dabei Solidarität mit den Beschäftigten ausdrücken. Dementsprechend wollen wir auch alles tun, den Arbeiter*innen das zur Verfügung zu stellen, was praktisch gebraucht wird; seien es materielle Hilfsgüter oder Kanäle, um ihre Stimmen Widerhall zu verleihen. Als radikale Linke können wir die Geschehnisse mit skandalisieren, aber was benötigt wird, das wissen die Arbeiter*innen am Ende noch immer am besten.